Sowohl auf bilateraler Ebene, als auch im Rahmen der EU und der NATO haben Tschechien und Polen identische Interessen. Aber zwischen beiden Ländern besteht auch eine ausgeprägte Asymmetrie der Außenpolitik. Während Tschechien historisch gesehen ein kleines mitteleuropäisches Land mit tiefer Verwurzelung im deutschen Kulturraum und später in der Habsburger Monarchie ist, weist Polen verschiedene Identitäten auf. Es ist ein Land, das teils mitteleuropäisch, teils baltisch und – als Nachbar Russlands – teils osteuropäisch ist. Während sich Tschechien im deutschsprachigen Raum primär an Wien, Bayern und Sachsen orientiert, ist es im Falle Polens Berlin.
Die Tschechen verfolgten nie ambitionierte Machtansprüche. Ihre Politik war immer ausgerichtet auf das Überleben in einem Umfeld, in dem eine große europäische Macht dominierte. Ihre nationale Identität ist defensiv geformt – sie definiert sich hauptsächlich über die Beziehung zu anderen. Geopolitisch waren die Polen oft in einer ähnlichen Situation, doch ihr Verständnis war anders. Ihre Zeiten des Überlebens unter Groß-mächten war immer verbunden mit eigenen Machtansprüchen. Die polnische nationale Identität ist weit weniger ein Spiegelbild fremder Mächte als die tschechische.
Die Tschechen sind dank ihrer Geschichte hauptsächlich eine provinzielle Nation, die keinerlei globale Ambitionen kennt. Der durchschnittliche Tscheche kümmert sich nur ungern darum, was sich außerhalb der Grenzen abspielt. Die Polen sind hingegen eine Nation mit einem globaleren Blickwinkel. Sie wähnen sich allein schon wegen ihrer Größe und geografischen Ausdehnung als ein europäischer Machtfaktor. Diese Unterschiede prägen heute und in Zukunft das Verhältnis der Tschechen zu Polen grundlegend. Die Ziele der polnischen Politik in Europa wie auch derjenigen zu den USA werden deutlich ambitiöser sein. Polen ist zudem bei weitem nicht so auf eine regionale Zusammenarbeit mit den Nachbarn angewiesen wie Tschechien.
Nur ein Beispiel: Tschechiens Politiker reagierten sehr zurückhaltend, teilweise sogar ablehnend auf den NATO-Einsatz in Ex-Jugoslawien oder bei der Unterstützung der USA im Irakkrieg. Polen hingegen hat nicht nur deutlich zum Ausdruck gebracht, dass seine transatlantischen Bündnisbeziehungen viel stärker sind als diejenigen der anderen Visegrad-Länder (Tschechien, Ungarn, Slowakei). Polen hat zugleich deutlich gemacht, dass es darauf vorbereitet ist, die Rolle einer neuen europäischen Mittelmacht zu spielen, die sich ihre Einstellung zum alten Europa nicht diktieren lässt. Gestärkt durch den Status eines EU-Mitglieds verhält sich Polen weitaus selbstbewusster und so, als würde es die Unterstützung der anderen Visegrad-Länder nicht mehr brauchen.
Trotzdem gibt es viele Anknüpfungspunkte: Tschechien ist im Unterschied zu Polen ein Binnenland. Dieser Unterschied reflektiert in gewisser Weise auch die Interessen. Polen kann sich in Zukunft als wichtiger Partner für Tschechien erweisen, wenn es um den Zugang zum Meer geht, während Tschechien den Polen als typisches Transitland einen besseren Zugang zum mittel- und osteuropäischen Mark ermöglichen kann. Die beiden Länder ergänzen sich auch in anderen Bereichen. Polen kann durch seine Bedeutung im internationalen Kontext der gesamten Region mehr Gewicht verleihen. Damit dies allerdings Früchte trägt, bedarf es einer weitaus besseren Koordination der Außenpolitik. Beide Länder arbeiten im Rahmen der EU und NATO bereits zusammen. Hier bietet sich eine Vertiefung an – zum Beispiel bei der integrierten Sicherheitspolitik.
Der Fall des Eisernen Vorhangs hat auf eigenartige Weise das Interesse der Tschechen am Geschehen in Polen verringert – und ungekehrt. Durch den zukünftigen Beitritt Tschechiens und Polens zum Schengener Raum und der damit verbundenen Auflösung der Grenzen wird sich das vielleicht wieder ändern. Positiv dazu beitragen kann heute schon der Ausbau der Euroregionen. Das Wissen voneinander ist grundlegende Voraussetzung für eine ernsthafte politische Zusammenarbeit. Jedenfalls wird sich in den nächsten Jahren erweisen, ob sich die Tschechen auch weiterhin Richtung Deutschland und Österreich orientieren werden, oder ob Polen in ihren sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Belangen eine ebenso wichtige Rolle spielen wird.
Prager Zeitung – 19. 8. 2004